Als ich die Kö runter schlenderte, sah ich rüber auf die andere Seite. Da steht es noch, mein altes Gymnasium. An der Ecke Kö zur Bastionstrasse befindet sich jetzt ein Brunnen.
Ich nehme an, es handelt sich hier um eine Allegorie. Wissensdurstiger Panz trinkt gierig das Wissen, welches ihm durch Alma Mater gereicht wird.
Nicht in jedem Brunnen schwimmen Blumen. Hier sehr wohl. Nun ja, wir befinden uns auf der Kö.
Ich setze mich neben das Rauschen des Wissens. Die Vergangenheit kommt über mich. Die Kö war noch deutlicher zweigeteilt. Hier auf der Westseite schwammen keine Blumen in Wasserbecken. Bei Einbruch der Dunkelheit füllte sich der Bürgersteig mit Damen in kurzen Mänteln aus falschem Leopardenfell, mit netzstrumpfgeschmückten Beinen, auffallendem Make-Up und sehr hohen Schuhen.
Abends, wenn wir aus der Schule kamen, standen sie schon da hart am Bordstein. Hundert von ihnen konnte man sicher zählen. Für uns war das eine fremde und zumeist verachtenswerte Welt, aber auch eine reizvolle, die neugierig machte. Irgendwie schafften wir es, immer mal wieder mit einigen der Damen ins Gespräch zu kommen. Die andren verjagten uns einfach, wobei wir jedes Mal neue, erregende Schimpfwörter lernten. Ich erinnere mich an drei dieser Damen, die uns verrieten, dass sie Tripper hätten. Uns könnten sie das ja sagen, weil wir sowieso nicht in Frage kämen. So lernten wir, dass der Umgang mit diesen Damen nicht nur deshalb gefährlich sein konnte, weil sie mit einem hochhackigen Schuh in der Hand gut bewaffnet waren sondern auch ansonsten gewerbebedingte Gefahren von ihnen ausgingen. Abends aus der Schule kamen wir, weil wir im wöchentlichen Wechsel mal vormittags mal nachmittags Schule hatten. Schulgebäude und nicht nur die waren rar, so dass sich zwei Gymnasien, in diesem Fall die beiden staatlichen in der Stadt, ein Gebäude teilen mussten.
Ich erinnerte mich an ein Erdbeben, das einmal dem Unterricht für den Rest des Tages die Strenge nahm, wie wir Heile Selassie, den göttlich verehrten König von Äthiopien bestaunten, der mit großem Tross eine Art Parade auf der Kö veranstaltete. Er wurde Thema im Kunstunterricht. Die meisten von uns malten danach einen bärtigen Mann in wallenden Kleidern und in würdiger Haltung.
Dann die dicken, großen Karpfen im Kö-Graben. Die wie ein Stock im Wasser stehenden Hechte. Die nicht ganz so großen Karpfen, denen ein hungriger Hecht Teile des Rückens heraus gebissen hatte, die aber trotzdem da herum schwammen. Die großen schwarzen Muscheln an den Mäuerchen um das Wasser. Die kleinen Details vor allem an den Brücken über den Graben zur eleganten Ostseite der Kö.
Die beleuchteten Geschäfte, deren Namen die ihrer Besitzer waren, und deren Angebot ganz einzigartig in der Welt war, so das es sich für die immer Reichen selbst in diesen schlechten Zeiten lohnte, von weit, sogar von Paris und London her zu kommen und hier einzukaufen, Erst später wurden die Mieten auf der Kö so exorbitant hoch, dass sich nur noch die großen, internationalen Firmen des Luxussektors das leisten konnten, was zu Folge hat, dass sich das Angebot heute kaum von denen auf Boulevards anderer stilbewusster Städte unterscheidet. Und doch versinkt die Kö nicht in luxuriöser Provinzialität. Es sind nicht die Geschäfte, es sind die Menschen. Dort trifft unbeschreiblicher Luxus auf Restexistenzen, der staunende Quakenbrücker auf einen Tross um einen Scheich, für den ein Geschäft schon einmal den Zugang für alle anderen sperrt. Man trifft hier auf eine Selbstverständlichkeit des Umgangs miteinander, eine allgemeine Toleranz gepaart mit verrückten Präsentationen von Eitelkeit und Geltungsbedürfnis, gelebte Ironie, welche diesen Boulevard lächeln macht und Züricher, die sich über die moderaten Preise wundern, aber nicht lächeln und schon mal auf einen zum Pick-Up umgebauten Rolls Royce.
Ich schaue auf das Portal des alten Gymnasiums, durch das wir Schüler nie gehen durften, dann hoch zu dem Turm, in dem die Kultusministerin residierte und mein Auge wird von Videokameras erfasst.
Meine Erinnerungen sind wie weggeblasen. Das Heute hat mich. Mit Schrecken.