Überleben

Die Güterzüge waren schier endlos lang. Es dauerte eine Ewigkeit, bis so ein Zug von einer schnaufenden Dampflok gezogen vorbeigerollt war. Die Geschwindigkeit entsprach in etwa der eines schnell laufenden Mannes. Im Sekundentakt war das gepresste Atmen der angestrengten Lok zu hören, wobei sich der grau-schwarze Rauchfilm, der als permanenter Schleier heiß zitternd aus dem Schornstein der Lok die Windrichtung anzeigend wehte, in eine dicke, weiße Dampfwolke verwandelte. Und immer wieder verloren die großen, schweren, eisernen Räder des Dampfrosses den Kontakt zu den stählernen Gleisen. Welche Kraft dort wirkte, wurde offenbar, wenn diese Räder durchdrehten und aus dem regelmäßigen Fauchen ein plötzliches, rasendes Stakkato wurde, sich Stahl auf Stahl rieb, dass es Funken sprühte und nicht große, weiße Dampfwolken in den Himmel wallten sondern viele, kleine, weiße Rauchfetzen den grau-schwarzen Rauchschleier durchspitzten und die Erde erzitterte.

Im Abstand von etwa 200 Metern gab es in so einem kilometerlangen Zug einen Wagen mit Bremserhäuschen, das jeweils mit einem Bremser besetzt war. Wenn ich mich recht entsinne, ich zählte mal gerade 5 Jahre, waren diese Männer bewaffnet. Denn ihre Aufgabe war weniger die, den Zug im Notfall zum Stillstand zu bringen sondern vielmehr die, die Fracht zu bewachen. Die Bremser waren gefürchtet.

Warum das? Selten transportierte solch ein Zug Güter, die der Wirtschaft, seinerzeit dem Wiederaufbau dienten. Das Meiste, was da transportiert wurde, waren Reparationsleistungen. Stahl aus der Demontage von Fabriken im Ruhrgebiet, zweite Gleise zweigleisiger Bahnstrecken und vor allem Kohle; Kohle für die Alliierten. Und wir mussten frieren. Unsere Kohle. Und wir mussten immer noch frieren.

Es war ein Akt der gefühlten Gerechtigkeit und schlicht eine Notwendigkeit, in respektabler Entfernung von einem dieser mit einem Bremserhäuschen versehenen Wagons auf den Zug zu springen, auf den Wagen zu klettern und so schnell wie möglich soviel wie möglich der großen bis zu mehreren Zentnern schweren Kohlebrocken von den übervollen Wagons zu rollen, die dann zwischen Bahndamm - da wo der Tabak wuchs - und Gleis landeten. Jeder hatte so einen zwei- oder vierräderigen Handkarren, mit dem man dieses schwarze Gut abtransportieren konnte.

Einmal ging ein Gerücht wie ein Lauffeuer durch die Bauernhöfe und einzeln stehenden Häuser dort auf dem Land. Im nur 4 km entfernten Güterbahnhof soll ein Güterzug voll mit bester Kohle entgleist und teilweise umgestürzt sein. Man munkelte, das sei das Werk mutiger Männer, also von uns, gewesen. Ein Heer von Handkarren nahm Kurs auf diesen Bahnhof. Und eine gute Stunde später füllten sich die Keller mit bester, glänzend schwarzer Kohle. Und die wieder leeren Wägelchen machten sich abermals auf, dem Winter den Schrecken zu nehmen.

Man erzählte sich, dass die Wachposten und Bremser der Alliierten zwar mit gezogenen Pistolen und Gewehren im Anschlag um die Unglücksstelle herum ständen jedoch nicht schössen, sei es, dass sie fürchten mussten, von den vielen Hundert Kohlenklauern nach dem ersten Schuss dann letztendlich doch massakriert zu werden oder es war einfach Mitleid. Mehr als zwei mal schaffte man es nicht, sich einzudecken. Denn dann kamen ordentliche Truppen der Siegermächte und machten dem ein Ende. Lebensgefährlich war dieser Kohlenklau allemal.

Heute reicht es, einen Koffer in einem Bahnhof zu vergessen, um den gesamten Zugverkehr der Region für Stunden lahm zu legen.

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