Rukatunturi
Ich hatte es vom Varranger-Fjord kommend am Inarisee vorbei zurück zum Rukatunturi geschafft. Das liegt auf Höhe des nördlichen Polarkreises. Geradezu heimatlich verglichen mit der Landschaft und dem Dasein weiter nördlich bin hin zu den Fjorden bei Vardö oder Vadsö. Dieser Ruka erhebt sich gerade mal etwa 60 Meter über die Umgebung. Das interessante an dem Felsen ist, dass sich Meter um Meter die man ihn hochschreitet, die Vegetation ändert. Hier kommen nur noch solche Gehölze vor, die dem Boden aufliegen. Er erhebt sich eben mal über die Waldgrenze.
Am Fuß des Bergchens gibt es das, was hier oben Hotel heißt. Ein Holzhaus mit mehreren Zimmern mit Dusche und eine Bar, an der man jeweils nur eine Flasche Bier erwerben kann, die nur in geöffnetem Zustand abgegeben wird. Für eine weitere muss man wieder aus dem Zimmer raus und an die Theke. Am nächsten Tag, weiß man, dass das sein Gutes hat. Nach drei Flaschen hatte ich ätzende Kopfschmerzen am nächsten Morgen. Es stehen auch grobe Tische und Stühle da, an denen es zu festgelegten Zeiten, etwas zu Essen gibt.
Vor meinem Zimmerfenster floss ein breiter Fluss, der schäumend und lärmend über große, z.T. aus dem Wasser ragende Felsen rauschte. Ein wenig erinnerte dieser Katarakt an den Rheinfall bei Schaffhausen. Trotzdem gibt es ausgewachsene Schiffe in diesem Wildwasser.
Ich hatte gehört, dass kurz vor der russischen Grenze, also im Osten und etwas nördlicher ein scheues Volk leben sollte. Skoltlappen, die vor Jahren aus Russland kommend dort angesiedelt worden waren. Überhaupt sollte diese Gegend noch wilder und noch menschenverlassener sein, als es hier im Norden so wie so schon der Fall ist.
Die Beschreibungen hatten etwas Geheimnisvolles.
Ich hatte hier Station gemacht, weil ich das Bedürfnis hatte, nach mehr als einer Woche mal wieder sprechen zu können. Es gab dort einen Kölner, der sich entschlossen hatte, dort sein Leben zu fristen. Finnen sind nicht sehr redselig, aber eine Woche lang kein Wort zu reden, ist eine harte Prüfung. Finnisch zu lernen, ist ein schwieriges Unterfangen. 15 Fälle bei der Deklination. Nominativ, Genetiv, Partitiv, Akkusativ I +II, Instruktiv,Komitativ, Abessiv, Essiv, Translativ, Inessiv, Elativ, Illativ, Adessiv, Ablativ und Allativ. Manche Wörter haben im Plural noch einen Prolativ. Alles als Suffix. Beispiel (meritse = auf dem Seeweg; von meri = das Meer) Keine Artikel, keine Präpositionen. Betonung immer nur auf der ersten Silbe, egal wie lang ein Wort ist und es gibt irre lange Worte. Dabei dann noch gedehnte und lange von kurzen Vokalen unterscheiden ohne die Stimme zu heben. Doppelkonsonaten werden ohne Holpern doppelt ausgesprochen. Dann gibt es noch Vokalveränderungen als Angleichung an einen Schönklang der Sprache. Ein Österreicher, den ich traf, verriet mir, dass er jetzt nach 19 Jahren Leben in Finnland so ziemlich fließend Finnisch spräche.
Nach zwei Tagen gelegentlichen Sprechens und der Erkenntnis, dass der Wodka hier ebenso übel ist wie das Bier rief die Wildnis und zwar nicht der Bärenpfad, auf dem man möglicherweise einem Bären aber auch einem Vielfraß, aber eher schon einem jungen Paar kurz vor der Heirat begegnen konnte, sondern in eine der verlassensten Gegenden Europas, ins Land der Skoltlappen.
Die feste Straße war schnell verlassen. Es gab Schotterpiste. Darauf fährt mit in etwa so, wie man Schiff auf einem Fluss fährt. Einer Lenkbewegung folgt de Wagen nur mit Verzögerung dann aber möglicherweise ungewohnt vehement. Das Fahren auf solcher Piste will gelernt sein. Ich habe es nicht gelernt, wie sich herausstellen sollte, obwohl ich bereits nahezu tausend Kilometer Schotterpiste im hohen Norden abgefahren war.
Dort aber ging es meist geradeaus flankiert von in den Boden gerammten Baumstämmchen, welche die Straße markieren, auch wenn hoher Schnee liegt.
Nachdem ich zwei Bäume von der "Straße" beiseite geräumt und einen Reifen, den ich bei einem Ausrutscher gegen einen spitzen Felsen kurz vor dem tiefer liegenden Gelände seitlich der Straße platt gefahren hatte, gewechselt hatte, erkannte ich so etwas wie eine Siedlung. Blockhütten im Abstand von für Finnland engen 300 bis 400 Metern. Ich hätte es mir denken können. Die Skoltlappen, so hieß es, sind scheu. Kein Mensch zu sehen. Die übliche finnische Waldesruhe, in der man das Knacken eines Astes meilenweit hören kann. Mein Auto war weit zu hören gewesen. Das musste gereicht haben, um die Hütten wie entvölkert aussehen zu lassen. Kein Mucks. Ein Regentropfen, wie er auf den lockeren Waldboden fällt, wäre gut zu hören gewesen.
Dumm, wie ich mich verhalten habe. Was hatte ich erwartet? Enttäuscht war ich schon ein wenig. Ich fuhr zurück an die Straße, hielt neben dem wie hier üblich über der Erde liegenden Benzintank und betrat den länglichen Raum, in dem man Benzin kaufen konnte, der aber auch eine Theke enthielt. Ich bestellte bei einer Frau, die gut eine alte Indianerin hätte sein können, einen Kaffee und bekam eine braune Brühe, der man einen gewissen Kaffeegeschmack nicht absprechen konnte. Erst jetzt nahm ich dieses Mädel wahr. Ungesund sah es aus. Eine Ratte, die dem Wald entwöhnt, hier in dieser Keipe ein neues Leben gefunden zu haben schien. Sie trank einen Wodka. Es müssen viele davon gewesen sein, die es so zerfressen, schmutzig, voller roter Flecken, einigen eitrigen, aufgekratzten Pickeln im Gesicht gemacht hatte. Der Begriff ‚Feuerwasser‘ drängte sich mir auf. Ich bestellte noch ein Wasser und einen Kaffee. Den überall in Finnland üblichen Piima, eine geschlagene, herrliche Buttermilch, gab es hier nicht. Ich übte mich, mich mittels einiger Gesten der alten Frau mitzuteilen. Ich murmelte was von Hyvää und zeigte nach draußen und die Arme ausbreitend bezeichnete ich die gesamte Gegend, erntete aber weder ein Kopfnicken noch sonst eine bejahende Geste. Ein kleiner Junge, den ich bisher nicht entdeckt hatte, schlüpfte durch die Tür nach draußen und verschwand in Richtung der Hütten.
Ich entdeckte ein paar in die Balken geschnitzte Runen und sah über der Theke eine Tafel, auf der auf der einen Seite das finnische Hakenkreuz und auf der anderen der russische Stern aufgekritzelt waren. Finnisch-Russische Freundschaft. Wir befinden uns in der Zeit, als es den Eisernen Vorhang noch gab. Ich machte mir jede Bewegung und jedes Detail in dem dunklen Raum erfassend Gedanken, wie man hier weitab aller Kultur und ebenso dem Wald entwurzelt leben konnte. Wie so oft in Finnland überkam mich dieses verlorene, stumm machende Gefühl, etwas das einen lethargisch sein lässt, dem Tod nahe, Bewegung kaum zulässt und Musik auf ein zwei Töne reduziert, wobei das Wie des Tones wesentlich mehr sagt als eine Abfolge von Tönen, wo man sich vorstellt, dass der Lärm einer Großstadt tödlich auf diese Leute hier wirken würde.
Der Junge, der vor einer Weile durch die Tür nach draußen geschlüpft war, kam mir entgegen, als ich den Raum verlassen wollte. Er hatte diesen offenen Blick, der einen im Norden Finnlands erst erstaunt dann nahezu verrückt machen kann. Irgendetwas in diesem Blick hatte etwas Aufforderndes. Entrann sich seinem Mund ein pfeifender Ton? Ich trat nach draußen, sah den großen Benzintank, die Benzinpumpe und die Schotterstraße, dann noch ein Blick durch die Kiefernstämme auf die Blockhäuser dahinten. Ich sah einige Frauen dort zwischen den Baumstämmen.
Ich zögerte, machte mich dann aber doch auf ins Dorf. Langsam. Manchmal verweilend. Dort angekommen sah ich ein paar Frauen mit auffallend runden Gesichtern, Schlitzaugen und noch auffallenderen Backenknochen in farbiger, fremdartiger, derber Kleidung. Ein schwerer Rock über dicken Strümpfen, eine Bluse, darüber eine feste Jacke. Auf dem Kopf eine kunstvolle, runde Kappe mit farbigen Ornamenten oder ein Kopftuch. Doch auch diese waren bald verschwunden, so dass ich sie nicht aus der Nähe sehen konnte.
Dann kam dieser ältere Mann langsam aber stetig auf mich zu. Auf dem Kopf trug er eine ebenso bunte Kappe, wie die Frauen sie trugen, nur kunstvoller in den Stickereien und mit Goldfäden durchwirkt.. Auch etwas anders geformt. Sein Sacko war aus dickem, steifem Stoff und wurde von Spangen zusammengehalten, die nach allem, was ich von Gold weiß, aus purem Gold gewesen sein müssen. Er machte eine einladende Handbewegung. Ich verbeugte mich, wohl wissend, dass ich hier ein Eindringling war. Er zeigte auf einen besonders starken, mächtigen Baum. Ich wusste nicht, was das bedeutete und wollte mich schon aufmachen, mit ihm dorthin zu gehen. Doch er machte eine ausgreifende Bewegung mit dem Arm und beschrieb einen Kreis über das Dorf, dann zeigte er mir den Arm hebend freundlich lächelnd die innere Handfläche der jetzt senkrechten Hand. Ich verbeugte mich wiederum und ging mit dem Gefühl, etwas getan zu haben, was sich nicht gehört, zur Straße zu meinem Auto.
Jetzt wollte ich weg von hier. Es ging leicht bergab auf der kurvigen Schotterstraße. Immer wieder wurde das Auto zu schnell für die engen Kurven, so dass ich nicht selten bis an den Straßenrand rutschte. Ich kannte die Gefahr und bremste immer wieder. Meine Gedanken waren jedoch bei dem soeben Erlebten. Ich lenkte, das Auto fuhr geradeaus, kurz vor der Straßenkante riss es den Wagen in die Gegenrichtung. Zart Bremsen und jetzt stark Gegenlenken. Der Wagen flog von der einen Straßenseite zur anderen, verpasste die Kante und kippte etwa einen Meter tief in ein sumpfiges Wasserloch, in dem es auf dem Dach liegen blieb.
Alles was lose auf den Sitzen gelegen hatte, lag jetzt innen auf dem Wagendach bzw. schwamm in dem Wasser, was sich dort eingestellt hatte. Ich stieg durch ein Fenster aus und betrachtete mein Auto, das wie ein Käfer auf dem Rücken und fest im Sumpf lag. Ein prächtiger Blick auf die Teile des Wagens, die man ansonsten so gut wie nie sieht. Ein klein wenig Benzin lief aus oder das, was ich für Benzin hielt. Es war die Batterieflüssigkeit.
Etwa 40 km entfernt von der nächsten richtigen Straße. Näher an Russland als an der nächsten Tankstelle. Zu essen gab es hier nichts. Selbst den Preißelbeeren war es zu weit im Norden. Ich beruhigte mich selbst, sprach mir gut zu. Die Nacht würde kalt werden und die Gegend war keine, in der man draußen schlafen sollte. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich hin- und hergelaufen war, wenigstens die Bücher und Karten aus dem See im Dach gefischt und am Straßenrand deponiert hatte. Wer wird hier schon vorbeikommen? Eine tote Straße, die vor Russland praktisch endete. Vom Auto her hörte ich, wie es regelmäßig im Sekundentakt tropfte. Das war nicht gut.
Ich hörte ein Geräusch. Das musste ein Motorgeräusch sein. Es dauerte lange, bis ein grauer, voll besetzter Kleinbus russischer Bauart um die Ecke kam. Selbstverständlich hielt er. 8 oder 9 Mann stiegen aus. Es waren Norweger. Gestikulierend bat ich sie, mir zu helfen, das Auto zumindest wieder auf die Beine zu stellen. Mit allen Mann schafften wir es, das Auto aus dem Sumpf, in dem es sich festzusaugen drohte, zu lösen und dann wieder auf die Räder zu kippen. Ich dankte. Die Norweger fuhren weiter. Wohin fuhr ein Bus Norweger in dieser Gegend am Ende der Welt?
Ich war erleichtert. Das Tropfen war nicht mehr. Das Dach war zerknittert und eingedrückt. Die Windschutzscheibe hing außerhalb der Karosserie, war aber noch heil. Die Scheinwerfer waren zerbrochen. Endlich versuchte ich den Motor wieder zu zünden. Er lief. Die nassen Bücher fanden ihren Platz auf dem nassen Beifahrersitz. Um den Wagen herum türmte sich etwa 1 Meter hoch nackter Fels. Da war kein Hochkommen. So ein bisschen Verzweiflung kam schon in mir hoch. Doch es war nicht das Ende. Immerhin konnte ich das Alles hier stehen und liegen lassen und 40 km bis zur Piste nach Inari gehen. Das ließ sich bewältigen.
Da kam doch tatsächlich ein Volvo aus der Richtung der Skolt-Lappen an. Dem entstieg ein Deutsch radebrechender Finne, was eine große Seltenheit hier im Norden ist, der mich als Erstes fragte, ob ich angeschnallt gewesen sei, etwas, was in Deutschland zu dieser Zeit noch nicht üblich war. Er zeigte sich hilfsbereit und wollte dafür sorgen, dass Hilfe käme. Ich sagte was von Autoclubbi, eines der wenigen Wörter, die ich auf Finnisch sagen konnte. Das schon deshalb, weil es eines der vielleicht 12 Wörter ist, die einer europäischen Sprache entlehnt und deshalb auch auf Finnisch verständlich ist und vertraute auf meine ADAC-Schecks.
Nach mehr als einer Stunde kam zwar kein Gelber Engel aber ein Mercedestaxi, welches ich aber nicht mit der erwarteten Hilfe in Zusammenhang brachte. Diesem entstieg ein Bär von einem Mann. Der Mercedes gewann an Bodenfreiheit. Grußlos öffnete dieser Bär seinen Kofferraum, entnahm diesem ein Tau, dass ohne Weiteres einen Kahn am Rheinkaipoller hätte halten können, wand ein Ende um seine Anhängerkupplung, suchte an meinem Auto eine geeignete Stelle für das andere Ende und fand sie an der Radaufhängung vorne. Ich kroch in mein nasses Auto, startete den Motor an, legte den Gang ein und der Mercedes zog, was so ein Diesel ziehen kann. Ohne gewünschtes Ergebnis. Schließlich fuhr der Bär rückwärts um dann mit Vollgas vorwärts zu fahren. Mein Auto stand nach einem gewaltigen Ruck auf der Piste. Ein Vorderrad zeigte noch in Richtung geradeaus, das andere aber hatte es um geschätze 30° nach innen verbogen. Ich machte ein paar Fahrversuche. Es ging.
Ich bedankte mich in allen Sprachen der Welt und dachte: "Hättest Du mal auf den Autoclub gewartet!" Der Bär stand da, hörte sich meinen Wortschwall an und stand da. Nach einer ganzen Weile, ich fragte mich, warum der nicht weiterfuhr, entrann sich dem bisher hermetisch verschlossenen Mund des Bären in reinstem Deutsch das Wort "Zahlen" Ich muss geguckt haben wie ein Meerschweinchen, das auf einmal in einem Indianertippi aufwacht, fragte wieviel das kostet, wobei mir klar wurde, das eben dieser Bär die Hilfe war, die der Volvomensch mir geschickt hatte und zahlte eine vergleichsweise niedrige Summe, die ich gut aufgerundet hatte. Der Mercedes verschwand in einer Staubwolke und ich und mein Auto, die losen Teile hatte ich mit Gaffaband, das ich auf solchen Expeditionen immer bei mir habe, befestigt, ganz vorsichtig und ganz langsam und doch schlingernd in Richtung menschlicher Besiedelung.
...... wird fortgesetzt.
Am Fuß des Bergchens gibt es das, was hier oben Hotel heißt. Ein Holzhaus mit mehreren Zimmern mit Dusche und eine Bar, an der man jeweils nur eine Flasche Bier erwerben kann, die nur in geöffnetem Zustand abgegeben wird. Für eine weitere muss man wieder aus dem Zimmer raus und an die Theke. Am nächsten Tag, weiß man, dass das sein Gutes hat. Nach drei Flaschen hatte ich ätzende Kopfschmerzen am nächsten Morgen. Es stehen auch grobe Tische und Stühle da, an denen es zu festgelegten Zeiten, etwas zu Essen gibt.
Vor meinem Zimmerfenster floss ein breiter Fluss, der schäumend und lärmend über große, z.T. aus dem Wasser ragende Felsen rauschte. Ein wenig erinnerte dieser Katarakt an den Rheinfall bei Schaffhausen. Trotzdem gibt es ausgewachsene Schiffe in diesem Wildwasser.
Ich hatte gehört, dass kurz vor der russischen Grenze, also im Osten und etwas nördlicher ein scheues Volk leben sollte. Skoltlappen, die vor Jahren aus Russland kommend dort angesiedelt worden waren. Überhaupt sollte diese Gegend noch wilder und noch menschenverlassener sein, als es hier im Norden so wie so schon der Fall ist.
Die Beschreibungen hatten etwas Geheimnisvolles.
Ich hatte hier Station gemacht, weil ich das Bedürfnis hatte, nach mehr als einer Woche mal wieder sprechen zu können. Es gab dort einen Kölner, der sich entschlossen hatte, dort sein Leben zu fristen. Finnen sind nicht sehr redselig, aber eine Woche lang kein Wort zu reden, ist eine harte Prüfung. Finnisch zu lernen, ist ein schwieriges Unterfangen. 15 Fälle bei der Deklination. Nominativ, Genetiv, Partitiv, Akkusativ I +II, Instruktiv,Komitativ, Abessiv, Essiv, Translativ, Inessiv, Elativ, Illativ, Adessiv, Ablativ und Allativ. Manche Wörter haben im Plural noch einen Prolativ. Alles als Suffix. Beispiel (meritse = auf dem Seeweg; von meri = das Meer) Keine Artikel, keine Präpositionen. Betonung immer nur auf der ersten Silbe, egal wie lang ein Wort ist und es gibt irre lange Worte. Dabei dann noch gedehnte und lange von kurzen Vokalen unterscheiden ohne die Stimme zu heben. Doppelkonsonaten werden ohne Holpern doppelt ausgesprochen. Dann gibt es noch Vokalveränderungen als Angleichung an einen Schönklang der Sprache. Ein Österreicher, den ich traf, verriet mir, dass er jetzt nach 19 Jahren Leben in Finnland so ziemlich fließend Finnisch spräche.
Nach zwei Tagen gelegentlichen Sprechens und der Erkenntnis, dass der Wodka hier ebenso übel ist wie das Bier rief die Wildnis und zwar nicht der Bärenpfad, auf dem man möglicherweise einem Bären aber auch einem Vielfraß, aber eher schon einem jungen Paar kurz vor der Heirat begegnen konnte, sondern in eine der verlassensten Gegenden Europas, ins Land der Skoltlappen.
Die feste Straße war schnell verlassen. Es gab Schotterpiste. Darauf fährt mit in etwa so, wie man Schiff auf einem Fluss fährt. Einer Lenkbewegung folgt de Wagen nur mit Verzögerung dann aber möglicherweise ungewohnt vehement. Das Fahren auf solcher Piste will gelernt sein. Ich habe es nicht gelernt, wie sich herausstellen sollte, obwohl ich bereits nahezu tausend Kilometer Schotterpiste im hohen Norden abgefahren war.
Dort aber ging es meist geradeaus flankiert von in den Boden gerammten Baumstämmchen, welche die Straße markieren, auch wenn hoher Schnee liegt.
Nachdem ich zwei Bäume von der "Straße" beiseite geräumt und einen Reifen, den ich bei einem Ausrutscher gegen einen spitzen Felsen kurz vor dem tiefer liegenden Gelände seitlich der Straße platt gefahren hatte, gewechselt hatte, erkannte ich so etwas wie eine Siedlung. Blockhütten im Abstand von für Finnland engen 300 bis 400 Metern. Ich hätte es mir denken können. Die Skoltlappen, so hieß es, sind scheu. Kein Mensch zu sehen. Die übliche finnische Waldesruhe, in der man das Knacken eines Astes meilenweit hören kann. Mein Auto war weit zu hören gewesen. Das musste gereicht haben, um die Hütten wie entvölkert aussehen zu lassen. Kein Mucks. Ein Regentropfen, wie er auf den lockeren Waldboden fällt, wäre gut zu hören gewesen.
Dumm, wie ich mich verhalten habe. Was hatte ich erwartet? Enttäuscht war ich schon ein wenig. Ich fuhr zurück an die Straße, hielt neben dem wie hier üblich über der Erde liegenden Benzintank und betrat den länglichen Raum, in dem man Benzin kaufen konnte, der aber auch eine Theke enthielt. Ich bestellte bei einer Frau, die gut eine alte Indianerin hätte sein können, einen Kaffee und bekam eine braune Brühe, der man einen gewissen Kaffeegeschmack nicht absprechen konnte. Erst jetzt nahm ich dieses Mädel wahr. Ungesund sah es aus. Eine Ratte, die dem Wald entwöhnt, hier in dieser Keipe ein neues Leben gefunden zu haben schien. Sie trank einen Wodka. Es müssen viele davon gewesen sein, die es so zerfressen, schmutzig, voller roter Flecken, einigen eitrigen, aufgekratzten Pickeln im Gesicht gemacht hatte. Der Begriff ‚Feuerwasser‘ drängte sich mir auf. Ich bestellte noch ein Wasser und einen Kaffee. Den überall in Finnland üblichen Piima, eine geschlagene, herrliche Buttermilch, gab es hier nicht. Ich übte mich, mich mittels einiger Gesten der alten Frau mitzuteilen. Ich murmelte was von Hyvää und zeigte nach draußen und die Arme ausbreitend bezeichnete ich die gesamte Gegend, erntete aber weder ein Kopfnicken noch sonst eine bejahende Geste. Ein kleiner Junge, den ich bisher nicht entdeckt hatte, schlüpfte durch die Tür nach draußen und verschwand in Richtung der Hütten.
Ich entdeckte ein paar in die Balken geschnitzte Runen und sah über der Theke eine Tafel, auf der auf der einen Seite das finnische Hakenkreuz und auf der anderen der russische Stern aufgekritzelt waren. Finnisch-Russische Freundschaft. Wir befinden uns in der Zeit, als es den Eisernen Vorhang noch gab. Ich machte mir jede Bewegung und jedes Detail in dem dunklen Raum erfassend Gedanken, wie man hier weitab aller Kultur und ebenso dem Wald entwurzelt leben konnte. Wie so oft in Finnland überkam mich dieses verlorene, stumm machende Gefühl, etwas das einen lethargisch sein lässt, dem Tod nahe, Bewegung kaum zulässt und Musik auf ein zwei Töne reduziert, wobei das Wie des Tones wesentlich mehr sagt als eine Abfolge von Tönen, wo man sich vorstellt, dass der Lärm einer Großstadt tödlich auf diese Leute hier wirken würde.
Der Junge, der vor einer Weile durch die Tür nach draußen geschlüpft war, kam mir entgegen, als ich den Raum verlassen wollte. Er hatte diesen offenen Blick, der einen im Norden Finnlands erst erstaunt dann nahezu verrückt machen kann. Irgendetwas in diesem Blick hatte etwas Aufforderndes. Entrann sich seinem Mund ein pfeifender Ton? Ich trat nach draußen, sah den großen Benzintank, die Benzinpumpe und die Schotterstraße, dann noch ein Blick durch die Kiefernstämme auf die Blockhäuser dahinten. Ich sah einige Frauen dort zwischen den Baumstämmen.
Ich zögerte, machte mich dann aber doch auf ins Dorf. Langsam. Manchmal verweilend. Dort angekommen sah ich ein paar Frauen mit auffallend runden Gesichtern, Schlitzaugen und noch auffallenderen Backenknochen in farbiger, fremdartiger, derber Kleidung. Ein schwerer Rock über dicken Strümpfen, eine Bluse, darüber eine feste Jacke. Auf dem Kopf eine kunstvolle, runde Kappe mit farbigen Ornamenten oder ein Kopftuch. Doch auch diese waren bald verschwunden, so dass ich sie nicht aus der Nähe sehen konnte.
Dann kam dieser ältere Mann langsam aber stetig auf mich zu. Auf dem Kopf trug er eine ebenso bunte Kappe, wie die Frauen sie trugen, nur kunstvoller in den Stickereien und mit Goldfäden durchwirkt.. Auch etwas anders geformt. Sein Sacko war aus dickem, steifem Stoff und wurde von Spangen zusammengehalten, die nach allem, was ich von Gold weiß, aus purem Gold gewesen sein müssen. Er machte eine einladende Handbewegung. Ich verbeugte mich, wohl wissend, dass ich hier ein Eindringling war. Er zeigte auf einen besonders starken, mächtigen Baum. Ich wusste nicht, was das bedeutete und wollte mich schon aufmachen, mit ihm dorthin zu gehen. Doch er machte eine ausgreifende Bewegung mit dem Arm und beschrieb einen Kreis über das Dorf, dann zeigte er mir den Arm hebend freundlich lächelnd die innere Handfläche der jetzt senkrechten Hand. Ich verbeugte mich wiederum und ging mit dem Gefühl, etwas getan zu haben, was sich nicht gehört, zur Straße zu meinem Auto.
Jetzt wollte ich weg von hier. Es ging leicht bergab auf der kurvigen Schotterstraße. Immer wieder wurde das Auto zu schnell für die engen Kurven, so dass ich nicht selten bis an den Straßenrand rutschte. Ich kannte die Gefahr und bremste immer wieder. Meine Gedanken waren jedoch bei dem soeben Erlebten. Ich lenkte, das Auto fuhr geradeaus, kurz vor der Straßenkante riss es den Wagen in die Gegenrichtung. Zart Bremsen und jetzt stark Gegenlenken. Der Wagen flog von der einen Straßenseite zur anderen, verpasste die Kante und kippte etwa einen Meter tief in ein sumpfiges Wasserloch, in dem es auf dem Dach liegen blieb.
Alles was lose auf den Sitzen gelegen hatte, lag jetzt innen auf dem Wagendach bzw. schwamm in dem Wasser, was sich dort eingestellt hatte. Ich stieg durch ein Fenster aus und betrachtete mein Auto, das wie ein Käfer auf dem Rücken und fest im Sumpf lag. Ein prächtiger Blick auf die Teile des Wagens, die man ansonsten so gut wie nie sieht. Ein klein wenig Benzin lief aus oder das, was ich für Benzin hielt. Es war die Batterieflüssigkeit.
Etwa 40 km entfernt von der nächsten richtigen Straße. Näher an Russland als an der nächsten Tankstelle. Zu essen gab es hier nichts. Selbst den Preißelbeeren war es zu weit im Norden. Ich beruhigte mich selbst, sprach mir gut zu. Die Nacht würde kalt werden und die Gegend war keine, in der man draußen schlafen sollte. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich hin- und hergelaufen war, wenigstens die Bücher und Karten aus dem See im Dach gefischt und am Straßenrand deponiert hatte. Wer wird hier schon vorbeikommen? Eine tote Straße, die vor Russland praktisch endete. Vom Auto her hörte ich, wie es regelmäßig im Sekundentakt tropfte. Das war nicht gut.
Ich hörte ein Geräusch. Das musste ein Motorgeräusch sein. Es dauerte lange, bis ein grauer, voll besetzter Kleinbus russischer Bauart um die Ecke kam. Selbstverständlich hielt er. 8 oder 9 Mann stiegen aus. Es waren Norweger. Gestikulierend bat ich sie, mir zu helfen, das Auto zumindest wieder auf die Beine zu stellen. Mit allen Mann schafften wir es, das Auto aus dem Sumpf, in dem es sich festzusaugen drohte, zu lösen und dann wieder auf die Räder zu kippen. Ich dankte. Die Norweger fuhren weiter. Wohin fuhr ein Bus Norweger in dieser Gegend am Ende der Welt?
Ich war erleichtert. Das Tropfen war nicht mehr. Das Dach war zerknittert und eingedrückt. Die Windschutzscheibe hing außerhalb der Karosserie, war aber noch heil. Die Scheinwerfer waren zerbrochen. Endlich versuchte ich den Motor wieder zu zünden. Er lief. Die nassen Bücher fanden ihren Platz auf dem nassen Beifahrersitz. Um den Wagen herum türmte sich etwa 1 Meter hoch nackter Fels. Da war kein Hochkommen. So ein bisschen Verzweiflung kam schon in mir hoch. Doch es war nicht das Ende. Immerhin konnte ich das Alles hier stehen und liegen lassen und 40 km bis zur Piste nach Inari gehen. Das ließ sich bewältigen.
Da kam doch tatsächlich ein Volvo aus der Richtung der Skolt-Lappen an. Dem entstieg ein Deutsch radebrechender Finne, was eine große Seltenheit hier im Norden ist, der mich als Erstes fragte, ob ich angeschnallt gewesen sei, etwas, was in Deutschland zu dieser Zeit noch nicht üblich war. Er zeigte sich hilfsbereit und wollte dafür sorgen, dass Hilfe käme. Ich sagte was von Autoclubbi, eines der wenigen Wörter, die ich auf Finnisch sagen konnte. Das schon deshalb, weil es eines der vielleicht 12 Wörter ist, die einer europäischen Sprache entlehnt und deshalb auch auf Finnisch verständlich ist und vertraute auf meine ADAC-Schecks.
Nach mehr als einer Stunde kam zwar kein Gelber Engel aber ein Mercedestaxi, welches ich aber nicht mit der erwarteten Hilfe in Zusammenhang brachte. Diesem entstieg ein Bär von einem Mann. Der Mercedes gewann an Bodenfreiheit. Grußlos öffnete dieser Bär seinen Kofferraum, entnahm diesem ein Tau, dass ohne Weiteres einen Kahn am Rheinkaipoller hätte halten können, wand ein Ende um seine Anhängerkupplung, suchte an meinem Auto eine geeignete Stelle für das andere Ende und fand sie an der Radaufhängung vorne. Ich kroch in mein nasses Auto, startete den Motor an, legte den Gang ein und der Mercedes zog, was so ein Diesel ziehen kann. Ohne gewünschtes Ergebnis. Schließlich fuhr der Bär rückwärts um dann mit Vollgas vorwärts zu fahren. Mein Auto stand nach einem gewaltigen Ruck auf der Piste. Ein Vorderrad zeigte noch in Richtung geradeaus, das andere aber hatte es um geschätze 30° nach innen verbogen. Ich machte ein paar Fahrversuche. Es ging.
Ich bedankte mich in allen Sprachen der Welt und dachte: "Hättest Du mal auf den Autoclub gewartet!" Der Bär stand da, hörte sich meinen Wortschwall an und stand da. Nach einer ganzen Weile, ich fragte mich, warum der nicht weiterfuhr, entrann sich dem bisher hermetisch verschlossenen Mund des Bären in reinstem Deutsch das Wort "Zahlen" Ich muss geguckt haben wie ein Meerschweinchen, das auf einmal in einem Indianertippi aufwacht, fragte wieviel das kostet, wobei mir klar wurde, das eben dieser Bär die Hilfe war, die der Volvomensch mir geschickt hatte und zahlte eine vergleichsweise niedrige Summe, die ich gut aufgerundet hatte. Der Mercedes verschwand in einer Staubwolke und ich und mein Auto, die losen Teile hatte ich mit Gaffaband, das ich auf solchen Expeditionen immer bei mir habe, befestigt, ganz vorsichtig und ganz langsam und doch schlingernd in Richtung menschlicher Besiedelung.
...... wird fortgesetzt.
knurps - 2. Aug, 13:43